[10029 km] Kiew, Tschernobyl, und [12962 km] weit darüber hinaus…

[10029 km] Kiew, Tschernobyl, und [12962 km] weit darüber hinaus…

Die Reise von Moskau nach Kiew liest sich auf dem Papier ganz angenehm. Abfahrt Montagabends um 21 Uhr, Ankunft am nächsten Morgen um 9 Uhr: Dank Zeitumstellung 13 Stunden, nach den langen Tagen ohne „richtige“ Zugfahrt also endlich mal wieder zumindest eine Übernachtung im Zug.

Die Realität zeigt sich allerdings etwas unfreundlicher: Um 2:35 stoppt der Zug am russischen Grenzbahnhof – etwa 150km von der Grenze entfernt. Der Halt dauert 50 Minuten. Mein Pass wird kontrolliert und gestempelt. Arnes Pass wird kontrolliert und gestempelt. Mein Pass wird nochmal kontrolliert. Ein Zöllner stapft vorbei und schaut kurz ins Abteil. Unsere Pässe werden nochmal kontrolliert – wohl vom zuständigen Auslandspasskontrolleur.

Gegen 5:30 (ukrainischer Zeit) folgt das gleiche Spiel auf der anderen Seite der Grenze. Ein ukrainischer Zöllner kontrolliert unsere Pässe, ein zweiter fragt ihn ob wir Russen seien (russische Männer zwischen 16 und 60 sind gerade nicht unbedingt gerne gesehen an der Grenze…), sein Kollege weist ihn auf unsere Nationalität hin.

„Hallo!“ sagt er. Und „Welche Stadt?“
„Stuttgart.“ antworte ich.
„Als Kind war ich in Hamburg… Reeperbahn!“ erwidert er mit nach oben gestrecktem Daumen, was zu allgemeiner Heiterkeit führt.

Irgendwann kurz vor 9 Uhr überschreiten wir die 10000 Kilometer-Grenze (zumindest nach meiner Zählung aus diversen mehr oder minder dubiosen Quellen) und erreichen

Kiew

Kiew ist kulturell und optisch nicht weit vom europäischen Teil Russlands entfernt. Viele goldene Kuppeln – dafür stand wohl beim Streichen bei manchen Gebäuden noch ein Bücherregal vor der Wand?

Gepaart mit der ein oder anderen Merkwürdigkeit wie

Rieseneiern und

überdachten Steinen.

Auch die Popkultur scheint hier ähnlich geprägt zu sein – überall in der Stadt sehen wir Poster, auf denender baldige Besuch von Thomas Anders beworben wird. Ich wünschte, ich würde mir das ausdenken…

Die Reise steckt mittlerweile in den Knochen, so geht es eher langsam durch die Stadt. Wir besuchen das Kiewer Höhlenkloster (siehe oben), offenbar oberirdisch gelegen! Unterirdisch schlängeln sich alte Einsiedlerhöhlen durch das Gestein – Fotos sind leider verboten, wären wohl aber auch schwierig gewesen. Unten gibt es nur Kerzenlicht (und die Kerzen muss man selbst kaufen und tragen), es ist unglaublich eng, überall stehen Ikonen, alte Grabmäler (unter Glaskästen) und ähnliches herum, und es ist unglaublich eng. Außer uns sind scheinbar außerdem alle zum Küssen da – nicht untereinander, sondern natürlich muss alles was lieb und heilig ist, vom gläubigen Besucher einmal abgeknutscht werden. Sicher gut für die Immunabwehr das ganze.

Mittlerweile ist auch das orthodoxe Weihnachten gut eineinhalb Wochen her – hier kratzt es zum Glück niemanden!

Der Weihnachtsmarkt ist noch gut besucht, es läuft auch immer noch Weihnachtsmusik – am 15. Januar. Wer der kyrillischen Schrift mächtig ist, kann es auf dem letzten Bild rechts erkennen: Es gibt hier sogar…

Glintwein! Was ist Glintwein? Glühwein!

Den gibt es nicht nur hier, sondern auch im örtlichen VDNKh!

Sogar mit Glitter!

VDNKh? Ja, in jeder anständigen Sowjetrepublik gehörte die „Ausstellung über die Errungenschaften der Volkswirtschaft“ zum guten Ton!

Es gibt eine Eisbahn…

…jemand hat den Maibaum gestohlen…

…nicht annähernd so viele Lichter wie in Moskau, aber zumindest einige…

…und des Weihnachtsmanns Schlitten wird von einem Stalin-Schwein gezogen.

Leider ist die Ausstellung in den 90ern und frühen 2000ern wenig genutzt worden und ist in nicht mehr so nah am Originalzustand wie die in Moskau – die Pavillions sind keinen Ländern mehr zuzordnen.  Auf einem dieser Pavillions prangt zwar z.B. ein lederhosentragender Mann mit Bierkrug, aber die Sowjetrepublik Bayern ist zumindest mir kein Begriff.

Zum Glück geht es dem Rest der Stadt besser!

So verbringen wir Tag 1 und Tag 3 in Kiew und sehen uns die Stadt an.

Wer jetzt ganz scharf aufgepasst hat, wird feststellen: Da fehlt doch ein Tag! Am Tag 2 unseres Kiew-Aufenthalts verlassen wir die Stadt für meinen Geburtstagsausflug in das etwa 200km nördlich von Kiew gelegene Sperrgebiet:

Ehrlich zugegeben, wussten wir nicht wie dieser Ausflug sich wohl anfühlen würde! Man will natürlich kein Katastrophentourist sein (auch wenn die Katastrophe über 30 Jahre her ist), andererseits dient das Gebiet natürlich gleichermaßen als Mahnmal für die Katastrophe und als begehbare Zeitkapsel der 80er Jahre.

Wer es noch nicht erkannt hat (das Ortsschild oben birgt ja ein paar Hinweise), unser Ausflug führt uns in und um die Stadt

Tschernobyl

Die Sperrzone beginnt etwa 30 Kilometer Luftlinie vom Reaktor entfernt. Am Checkpoint werden unsere Pässe kontrolliert, Zutritt ist nur unter voriger Anmeldung möglich – entsprechend muss man also im Sperrgebiet arbeiten (dazu später mehr), oder als Tourist eben mit einer Tourgruppe unterwegs sein. Auf der eineinhalbstündigen Fahrt wird über den Hergang der Katastrophe erzählt und ein kurzer Film präsentiert, bleibt dabei aber einigermaßen seicht (tiefgehende physikalische Erklärungen hatte ich aber auch nicht unbedingt erwartet).

Beim Warten am Checkpoint können Souvenirs erworben werden (wer träumt nicht von einer Tschernobyl-Kugel am Weihnachtsbaum). Wer möchte, kann für 10 Euro mehr noch ein Dosimeter (zur Messung der akkumulierten Strahlung) leihen, und an der Jagd nach den „Hot Spots“ teilnehmen – den Punkten, an denen noch erhöhte Strahlungsaktivität feststellbar ist. Jagd bedeutet in diesem Fall, dass unser Guide auf die entsprechenden Stellen zeigt, und alle mit Dosimeter brav nacheinander für einige Sekunden genau dorthin ihre Geräte halten. Dank des Souvenir- und Fressstands am Checkpoint kann chipskauend in das Sperrgebiet gefahren werden, bevor man fröhlich durch die Postapokalypse tanzt und sich wie ein Kind freut, wenn das Dosimeter wegen einer Grenzwertüberschreitung zu piepsen beginnt. Am Ende des Tages gibt es ein Zertifikat, es wird der Gewinner des Tages genannt, der am meisten Strahlung eingesammelt hat.

Genug Zynismus für einen Beitrag: Die Eintrittskarte enthält den Hinweis, dass es sich nicht um einen Vergnügungspark handelt, was Tourveranstalter und einige Touristen leider nicht von der ein oder anderen Geschmacklosigkeit abhält. Damit war zu rechnen (und hielt sich meistens in Grenzen), daher wird dies von hier an ausgeblendet.

Die Sperrzone wurde 1986 errichtet, nachdem es zu der Katastrophe im Reaktorblock 4 kam (und die Behörden schließlich reagiert hatten). Sie erstreckt sich grob in einem Kreis mit 30 Kilometer Radius um den zerstörten Reaktor 4. Die sogenannten Liquidatoren führen seitdem die Säuberungsarbeiten durch, der äußere Bereich (mehr als 10 Kilometer Abstand) ist dabei mittlerweile überwiegend sicher, der Aufenthalt hier wäre auch längerfristig theoretisch ohne Gefahr möglich. Wir kommen zunächst durch eine der vielen zerfallenen Siedlungen in der Zone.

Draußen haben sich die Bäume das Dorf zurückgeholt, nur der Hauptweg wurde freigehalten. Im Innern sind die Gebäude manchmal leer wie dieser Lebensmittelladen,

manchmal aber auch noch voller Überreste, wie dieses „Krankenhaus“ (was, wie ich glaube, die nette Umschreibung einer Abtreibungsklinik war):

Bereits kurz nach der Katastrophe wurde mit der Räumung der Gebäude begonnen: Alles, was eine zu hohe Strahlenbelastung aufweiste, wurde auf die Straße geworfen, weggeschafft, und vergraben. Später kamen die Plünderer – den Bewohnern der Zone wurde 1986 eine Rückkehr nach drei Tagen angekündigt, viele Habseligkeiten (unter anderem Geld…) blieben entsprechend zurück. Am Laden ist zu erkennen: Danach kamen die Metallsammler. Danach die (Hobby-)Archäologen, dann die (legalen und illegalen) Touristen.

Nach der Siedlung erreichen wir diese Statue:

„Die Männer, die die Welt retteten“ – ein Denkmal für die Feuerwehrmänner und anderen Helfer, die als erste am Unglücksort eintrafen und vermutlich eine noch größere Explosion verhinderten.

Der nächste Halt ist ein trauriger Ort (wenn dies nicht über das gesamte Gebiet geschrieben werden kann): Der Kindergarten von Kopatchi.

Hier gibt es seit 1986 kein Kinderlachen mehr – Unter-18-jährigen ist der Eintritt in die Zone grundsätzlich untersagt.

Im Anschluss nähern wir uns

Pripyat.

Die eigentliche Stadt am Reaktor. Die Stadt Tschernobyl liegt etwa 15 Kilometer vom Reaktor entfernt, dort schlafen einige der Arbeiter in der Zone, inzwischen gibt es wohl auch einige (mehr oder weniger gedultete) Rückkehrer dort. Pripyat hingegen liegt nur wenige Kilometer von den Kraftwerkblöcken entfernt. Innerhalb der inneren 10-Kilometer-Zone zieren immer mal wieder Gefahrenschilder den Weg.

Pripyat ist tatsächlich eine reine Geisterstadt.

Dieser Wohnblock könnte auch irgendwo in Deutschland stehen… hier sieht allerdings die gesamte Stadt so aus.

Ein in den letzten Jahren eingestürzte Schule – noch wachsen keine Bäume auf den Trümmern.

Die Überreste einer Musikschule.

Der nach der Katastrophe provisorisch bestimmte Verwaltungskomplex.

Der Supermarkt – hinten stand das Bier.

Das „Kulturzentrum“ Energetik – wohl sowas wie die Propagandazentrale.

Inklusive alter Parteiposter.

Viel Verkehr ist hier nicht mehr.

Das Riesenrad hätte wenige Tage nach der Katastrophe eröffnet werden sollen.

Blick durch’s Stadion.

Mein Geburtstagessen nehmen wir in der Werkskantine ein. Neben den Liquidatoren gibt es noch erstaunlich viele weitere Arbeiter in der Sperrzone. Reaktor 3 produzierte noch bis zum Jahr 2000 Energie, die Umspannanlage des Kraftwerkkomplexes ist immer noch aktiv. Es gibt ein eigenes Betonwerk in der Sperrzone…

Das Essen wird selbstverständlich von außerhalb in das Sperrgebiet gebracht. Vor Betreten der Kantine muss man sich auf gefährliche Strahlung überprüfen.

Nur wenige Kilometer entfernt steht der inzwischen sicher verschlossene Block 4:

Die große Hülle ist das New Safe Confinement – der „Sarkophag“. Dieser wurde 2016 fertiggestellt, nachdem Jahre vorher Risse in der kleineren, älteren Abdeckung festgestellt wurden. Und man kann erstaunlich nahe an diesen heran:

So sicher es im ganzen Sperrgebiet auch ist, so merkwürdig fühlt es sich dort trotzdem an. Weniger als 100 Meter vom zerstörten Reaktor, mit direktem Blick auf denselben, fühlt es sich einfach komplett falsch an.

Nicht weit entfernt stehen die Bauruinen der Blöcke 5 und 6:

4 Reaktorblöcke waren 1986 bereits in Betrieb, insgesamt geplant waren 8 Blöcke, um das größte Kernkraftwerk der Welt zu bauen. Blöcke 1 bis 3 wurden nach der Katastrophe noch weiterbetrieben, die Blöcke 5 und 6 befanden sich im Bau, welcher nicht fortgesetzt wurde. Auf dem Foto befindet sich links der Block 5. Die Baustelle wurde so wie sie war verlassen – die Kräne dienen also nicht dem Abbau, sondern stammen noch vom Aufbau.

Im Anschluss besuchen wir noch die Empfängerstation des Duga Radars:

Dieses Monstrum war unmöglich mit der Kamera einzufangen. 150 Meter hoch und 250 Meter lang, handelt es sich hierbei um die Empfängerstation des Radars. Die Sowjets schickten etwa 50 Kilometer von hier entfernt Radiosignale um die Welt, um amerikanische Raketenstarts frühzeitig erkennen zu können. Wie gut die Erkennung wirklich funktioniert hätte, war nicht ganz klar – nach dem Reaktorunglück musste das System an diesem Ort aufgrund der hohen Strahlenbelastung aufgegeben werden. Ein Abriss wurde wohl immer wieder in Betracht gezogen, aus Angst vor möglichen Erschütterungen dann aber nie durchgeführt. Seit 2013 ist die Anlage zugänglich.

Danach ist unser Tagesausflug auch bald beendet. Am Donnerstagmorgen müssen wir das Hotel verlassen, und können uns noch einen Tag Kiew anschauen (siehe oben).

Abends nach 22 Uhr verlassen wir Kiew, und zwar zur Abwechslung in der ersten Klasse:

Der Waggon ist deutlich älterer Bauart,aber dafür haben wir eine recht luxuriöse Kabine für uns. Niemand der uns beim ein- und auspacken stört oder weckt, und niemand der schnarchen kann. Einschlafen ist trotzdem erstmal schwierig. Kurz nach Abfahrt liege ich zwar im Bett, aber es folgt die holperigste Zugfahrt meines Lebens. Alle paar Sekunden fühlt es sich an, als würde der Waggon von den Schienen springen – manchmal auch, als hätte er es schon getan und wird trotzdem weitergezogen. Das ganze ist nicht so sehr störend beim Schlafen wie die Tatsache, dass ich einfach 15 Minuten lang lachend im Bett liege, wenn es mal wieder rumpelt. Das Rumpeln ist aber zum Glück nicht durchgängig: 13 Stopps legt der Zug in der Nacht ein.

Zugfahren in der Ukraine ist dabei nicht so schlimm, wie es sich jetzt sicher liest: Wir haben absichtlich den langsamstmöglichen Zug gewählt, um zumindest zu einer erträglichen Zeit an unserem Ziel anzukommen. Ein Tagzug zum Beispiel erledigt die Strecke in etwa 4 Stunden – sowas ist für uns aber natürlich verlorene Zeit.

Um 8:05 Uhr erreichen wir dann gut erholt…

[10604 km] Lwiw

Lwiw/Lvov/Lemberg (je nachdem wen man gerade fragt) ist eine schöne Stadt! „Wie Krakau oder Prag bevor die Touristen kamen“ soll es sein, was auch recht treffend ist. Wir sind natürlich nicht gerade zur Hochsaison hier. Die Bahnhofsuhr verrät es:

Vier Grad, aber es liegt noch Schnee: Unangenehmes Tauwetter herrscht vor – das drückt zum einen ein wenig das Sightseeing-Erlebnis, zum anderen ist es uns hier in unseren dicken Winterstiefeln fast schon etwas zu warm. Die Innenstadt ist dafür sehr sehenswert, und von Osten kommend tatsächlich eine willkommene Abwechslung!

Man stelle sich dies ohne das viele Wasser vor, dabei kommt tatsächliche eine sehr schöne Altstadt heraus! Mutig trauen wir uns sogar auf den Rathausturm und genießen die Aussicht über die Altstadt:

Vielleicht kann man angesichts meiner Todesangts nicht wirklich von genießen sprechen, aber das sei mal dahingestellt. Wieder mit sicherem Boden unter den Füßen, fühle ich mich sogar einmal ins Jahr 2015 (Kaukasusbesuch) zurückversetzt:

Der Rest der Innenstadt besteht überwiegend aus westlichen Kirchen, die zwar sehr hübsch sind, aber irgendwann hat man sich an Kirchen sattgesehen.

Wir genießen einen entspannenden Stopover-Tag in der Stadt, und freuen uns abends um 8 über unser Abteil im Schlafwagen nach westlicher Art:

Am halben Abteil ist zu erkennen, dass es sich wohl um einen abgegebenen ÖBB (oder vielleicht auch DB)-Schlafwagen handelt. Irgendwie eigentlich zu eng so ein halbes Abteil. In Dreierbelegung ist es sicherlich viel zu eng hier drin, zu zweit reist man sehr gut!

Dieses Ticket war übrigens als schwerstes von allen zu ergattern… Bei der ÖBB zwar buchbar, müsste aber in Österreich ausgedruckt werden, bei der DB zwar bekannt aber nicht buchbar (bzw. im System nicht als Schlafwagen gekennzeichnet), und im Buchungssystem der Ukrainischen Bahn können keine ausländischen Städte eingegeben werden… Schließlich tat es eine telefonische Buchung, beim zweiten Versuch wurden die Tickets dann sogar an mich geschickt. Der „Zug“ (der bei der DB kein Schlafwagen ist), ist eigentlich nur ein einziger Kurswagen, der an diversen anderen Zügen über Budapest nach Wien fährt.

Mitten in der Nacht ist dabei natürlich wieder die Grenzkontrolle. Die ukrainischen Zöllner kommen irgendwann nach 1 Uhr morgens in den Zug, nehmen die Pässe mit, und der Zug fährt zurück in die Ukraine. Super Gefühl. Es wird viel rangiert, schließlich landen wir irgendwo auf einem Gleis mit Kran: Umspuren ist angesagt! Alle alten Sowjetrepubliken fahren auf russischer Breitspur, so dass an Grenzübergängen die Fahrgestelle getauscht werden müssen. Draußen ist es dunkel, ab und zu rollt der große Kran vorbei, es hämmert und scheppert immer wieder – sonst bemerkt man vom Fahrgestellwechsel tatsächlich überhaupt nichts, der Waggon wackelt nicht einmal. Irgendwann kommen unsere Pässe sogar wieder, es folgen diverse weitere Zöllner und Grenzbeamte: Nach knapp zwei Stunden Halt sind wir in Ungarn, die Reise geht weiter.

Morgens um 8 wachen wir in Budapest auf und stellen fest: Verdammt, wo ist der Schnee?

Schließlich erreichen wir das Ziel des nächsten Stopover-Tags um etwa halb Zwölf, wir rollen ein in den Hauptbahnhof

[12037 km] Wien

Unwahrscheinlicher Endhalt einer Transsib-Reise? Eigentlich nicht – die russische Eisenbahn hätte uns sogar auch noch hierhin gefahren, wenn der Fahrplan in den Reiseplan gepasst hätte. Auch hier gilt: WO IST DER SCHNEE?

Vier Wochen lang gab es so manch verrücktes, aber der Schnee war eine sichere Konstante… nachdem wir in Lwiw schon die schönen Minustemperaturen verloren haben, müssen wir uns hier also auch vom Schnee verabschieden. Immerhin fühlt es sich beim Schloss ein wenig an wie am Baikalsee: Der Park ist gefüllt mit Unmengen asiatischer Touristen (warum gerade im Winter..?), in der Stadt verläuft es sich aber.

Für Wien hatte ich mir eigentlich nur ein einziges Ziel gesetzt: Sacher-Torte essen. Das habe ich leider nur schon vor einer Woche in Vladimir gemacht – aber ein Wiener Apfelstrudel tut es ebenso!

Wien ist Wien – hübsch wie jeder weiß, und im Gegensatz zu den meisten anderen Städten, waren viele meiner Leser sicher auch schon hier.

Schloss (oben), Stephansdom, Prater.

Wiener Schnitzel, Bier.

Genauso plötzlich wie der Schnee ist in Wien übrigens etwas noch viel verstörenderes passiert: Plötzlich ist nicht mehr Weihnachten! Keine bunten Lichter, keine Weihnachtslieder, kein nichts… das fehlt mir fast noch stärker als der Schnee!

Gegen 9 Uhr geht es dann ins Bett, die Aussicht genießen:

Oder fast:

Sarg-Feeling im Liegewagen: Wir liegen oben im Sechser-Abteil der ÖBB, im Nachtzug Richtung Düsseldorf. Vielleicht ist es die Vorfreude auf die Heimkehr und die damit verbundenen Annehmlichkeiten (das eigene Bett, das eigene Sofa, ein Badezimmerbesuch ohne den Gedanken „bloß nichts berühren“, eine Dusche ohne unfreiwilliges Wechselduschen… die Liste ist lang!), vermutlich aber tatsächlich eher das Bett: Liegewagen ist nicht gerade optimal für mich. Das Bett ist viel zu kurz, das Kissen „Kissen“ ist etwa einen halben Zentimeter dick. Ich habe hier zum Abschluss tatsächlich meine erste schlaflose Nacht auf der Reise. In Anbetracht der Umstände kann ich aber gut damit leben.

Morgens gegen halb sechs erreichen wir Frankfurt am Main Flughafen. Unsere Wege trennen sich hier; es gibt kein Abschiedsbier, dafür war Wien aber auch besser geeignet. Ich muss noch über eine Stunde warten bis mein Zug kommt, weitere zwei Stunden später erreiche ich schließlich

[12962 km] Stuttgart

Beim abschließenden Kilometerzählen hätte ich am liebsten noch nachträglich irgendwo einen Umweg eingebaut, um die 38 Kilometer noch irgendwo einzusammeln. Vielleicht hätte ich noch eine S-Bahntour um Stuttgart machen sollen… Realistisch gesehen basieren meine Zahlen aber auf diversen sicher mitunter sehr unzuverlässigen Quellen, so dass diese fehlenden 0,2% der Reise bestimmt irgendwo untergegangen sind. Ich fasse also zusammen:

13000 Kilometer Zugreise, und es war großartig! Temperaturen unter Minus 30 Grad, verdammt viel Schnee, noch viel mehr bunte Lichter, Eisskulpturen, ein Spaziergang auf dem Baikalsee, entspannte Zugfahrten (zum Ende hin leider oft zu kurz)… eine Transsib-Reise ist ein besonderes Erlebnis, das im Winter seine ganz eigenen Reize hat! Ob ich noch eine dritte Fahrt auf mich nehmen werde, wird sich zeigen… prinzipiell gibt es noch einiges an der Strecke zu erkunden: den Baikal im Sommer, was mal mehrtägige Wanderungen ermöglichen würde, Ulan-Bataar und die mongolische Wüste, die Einöde der Baikal-Amur-Magistrale (der „anderen“ TransSib)… die Liste ist lang, wer weiß schon was als nächstes kommt? Ich kann diese Reise nur jedem empfehlen! Wer ein gegenüber mir gesteigertes Komfort-Bedürfnis hat, kann sogar erste Klasse fahren – wobei dann natürlich die Erlebnisse mit den russischen Mitfahrern ausbleiben. Andere Touristen gab es im Zug im Winter übrigens praktisch nicht, es handelt sich also um einen echten Geheimtipp!

Wie weit war die Reise? Ich habe versucht, dies in Google Maps einigermaßen anschaulich zu machen:

Die Route stimmt sicher nicht ganz, aber zur Darstellung der Dimensionen sollte es reichen. Von Wladiwostok bis Frankfurt sind es ziemlich genau 120 Längengrade – ein drittel um die Welt, und das ganz ohne Jetlag!

In jedem Fall bedanke ich mich bei allen Lesern, ich begebe mich damit wieder vorerst in die Phase, in der ich mich vom Urlaub erholen kann! Auch wenn ich sagen muss: Ich vermisse den Schnee!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Consent Management Platform von Real Cookie Banner