Ulan Ude – Habarovsk im Rossija
Um 23:17 am Montagabend verlässt unser Zug laut Fahrplan Ulan Ude. Da alle Fahrpläne aber in Moskauer Zeit geschrieben sind, ist es in Ulan Ude tatsächlich 4:17 Uhr am Dienstag. Die Zeitverschiebung kommt langsam und schleichend, nach dieser Fahrt werden es 7 Stunden Unterschied zu Moskau sein. Über 50 Stunden Zugreise (wie man an der Länge dieses Eintrags sieht, hatte ich viel Zeit meine Gedanken aufzuschreiben) führen zwei Stunden Verschiebung aber auch zu keinem Jetlag mehr, zumal man sowieso einen guten Teil der Fahrt schläft!
Unser Zug mit der Nummer 002 (in der Gegenrichtung als Nummer 001 unterwegs) heißt Россия – zu Deutsch Russland, und ist passenderweise der Moskau-Vladivostok-Express. Entsprechend unseren Erwartungen hätten die Waggons eigentlich in den Farben Russlands gestrichen sein sollen, was sie überraschenderweise nicht sind (hat die russische Bahn das mittlerweile aufgegeben?). Im Inneren entspricht der Zug so ziemlich unserem letzten Zug (dem Vostok) – Teppich, die Möglichkeit die Betten hochzuklappen, und einigermaßen saubere Toiletten. Außerdem haben wir… Service.
Was heißt Service? Neben den Bettlaken gibt es zu Beginn der Reise ein kleines Hygieneset, bestehend aus Zahnbürste, Zahnpasta (hatten wir zum Glück bisher auch selbst dabei, sonst gäb’s wohl nichts mehr zum putzen), ein Erfrischungstuch, Schuhcreme1 (…?) und… einem Schuhlöffel (…?!). Eventuell soll der Schuhlöffel auch als regulärer Löffel dienen. Das wäre zumindest aus meiner Sicht ähnlich sinnig.
Zudem gibt es ein Frühstück. Ich weiß nicht genau was hier hinter den Kulissen abgelaufen ist, habe aber folgende Theorie: Der oberste Chef der russischen Eisenbahn hat eigenhändig alles daran gesetzt, einen Lehrling aus der Küchenabteilung von Aeroflot abzuwerben, um die Geheimnisse der weithin berühmten Flugzeugküche zu in Erfahrung zu bringen. Seitdem versuchen die Eisenbahnköche an die kulinarische Perfektion der fliegenden Cuisine anzuknüpfen.
Okay, ganz so schlimm ist es nicht. Da am einzigen morgendlichen Stopp weder ein Produkti noch eine Babushka (ja nicht einmal ein Magasin) auffindbar waren, gibt es immerhin etwas einigermaßen warmes zum Frühstück. Das Niveau liegt aber tatsächlich noch leicht unter dem Flugzeugessen. Außerdem bringt die verantwortliche Provodniza immer maximal drei bis vier Mahlzeiten mit, bevor sie die nächste Ladung holen muss. Das dauert dann so zehn bis 15 Minuten… Es stellt sich der Eindruck ein, dass es bis zum Abendessen dauert bis der gesamte Zug durchgefüttert ist.
Wo wir beim Zug wären: einen Halt über 20 bis 30 Minuten gibt es nur noch alle paar Stunden mal, dazwischen oft gar nichts… Man merkt deutlich, dass östlich des Baikalsees (wo die offizielle Streckenangabe erst bei etwa 5000km liegt) immer weniger und kleinere Städte und Dörfer kommen. Spätestens ab Chita2 dürften kaum noch Ausländer im Zug unterwegs sein. Der Zug selbst scheint auch eher ein Postzug mit angehängten Passagierwaggons zu sein. Auf die Lokomotive folgen vier Postwaggons, dann das Bordrestaurant, und fünf Passagierwaggons. Am Bahnsteig sieht das so aus:
Außerdem ziehen wir noch einen zusätzlichen Waggon in Rot hinterher:
Am Bahnsteig gegenüber entdecken wir ebenfalls eine Rarität, von der wir zuvor gelesen haben:
Am orthodoxen Kreuz ist erkennbar: Es handelt sich hier um Erben der Kapellen-Waggons, die für mobile Gottesdienste genutzt werden. Diese werden von Ort zu Ort gezogen, um der ansässigen Bevölkerung ohne Zugang zu einer eigenen Kirche einen Ersatz zu stellen.
Während einer etwa einstündigen Fenster-Session (man muss sich ja die Zeit vertreiben) stehe ich fest, dass wir stetig in den sibirischen Herbst fahren, was an sich ja sehr nett ist. Hier scheinen sich aber auch die Nadelbäume auf Herbst einzustellen, und nehmen gelbe bis rötliche Farben an (ohne nach Absterben auszusehen).
Das Ganze kommt mir extrem russisch3 vor – zuhause verhalten sich die Nadelbäume wie ordentliche Nadelbäume und bleiben grün!
Nach einiger Zeit wacht auch unser tiefenentspannter Mitfahrer (im Hawaii Hemd) auf. Er ist seit Moskau im Zug, und war zum Urlaub machen in Sochi und an der Krim, und fährt bis nach Vladivostok durch (dieser Teil gilt als einigermaßen gesichert)4. Er zeigt uns Urlaubsfotos, und nach einiger Zeit folgt dann wieder die bekannte russische Geste:
Die Aufforderung, doch einen kleinen zu trinken. Sämtliche verneinen hilft nichts, die 1,5 Liter PET-Flasche mit einem rötlichen Schnaps wird herausgeholt. Ich bekomme einen großzügigen Schluck eingeschenkt, Arne einen noch etwas großzügigeren. Danach wird das Spiel wiederholt, mit der 1,5 Liter PET-Flasche Wodka. Diesmal erhalte ich den großzügigeren Anteil. Er selbst trinkt nicht mit, da er noch fahren muss – unser Mitfahrer arbeitet als Eisenbahnfahrer. Dieser Teil entspringt unserer Interpretation seiner Aussagen – so richtig Sinn macht das nicht, da er noch zwei Tage bis nach Vladivostok unterwegs sein sollte. Das würde aber immerhin erklären weshalb er von der Krim bis Vladivostok mit der Bahn unterwegs ist, anstatt zu fliegen. Immerhin müssen wir so die Flasche nicht leeren, was tödlich hätte enden können. Die zwei Gläser haben sicherlich locker 5 oder 6 regulären Kurzen entsprochen.
Kurz darauf wird das Abendessen verteilt – wir erhalten keins, scheinbar kann man irgendwie zwischen Frühstück und Abendessen wählen. Dies zu kommunizieren ist uns aber zwei Nummern zu unmöglich.
Zum Abschluss entscheiden wir uns mal wieder für ein Bier im Speisewagen. Dieser ist ohne Touristen deutlich leerer… Wir sind die einzigen Gäste, der Koch und die Bedienung sitzen an einem der Tische und schauen einen Film am Laptop. Essen scheint es entsprechend gar nicht zu geben – wir werden nur gefragt ob wir Bier trinken möchten. Die Auswahl ist übersichtlich – Baltika 7 (russisches Starkbier) in rauhen Mengen, eine Flasche Holsten (wie kam die hierher?), oder zwei Flaschen tschechisches Schwarzbier. Der Hamburger liebt zwar sein Holsten, aber in meinem Fall nur in Deutschland. Nach den Erfahrungen mit dem russischen Starkbier fiel die Wahl sehr schnell aus. Aufgrund meiner großen Begeisterung für Panorama-Fotos sah ich wieder die Chance für eine unpassende Gelegenheit:
TransSib-Tage enden für gewöhnlich früh – sobald es draußen dunkel wird, gegen die Abteiltüren zu (was neben schlafen aber auch Alkohol bedeuten kann). Gegen 22 oder 23 Uhr (wer weiß das schon so genau) ist aber noch ein Halt angesetzt, bei dem wir noch kurz rausspringen. Und gleich wieder rein, zu kalt. Der Wodka macht müde, so schlafen wir im Zug gewohnt gut. Überraschung: keiner unserer Nachbarn schnarcht.
Am Tag 2 springe ich morgens gegen 6, 7 oder vielleicht auch 8 Uhr Ortszeit bei einem 20-Minuten-Stopp heraus, um Frühstück zu finden… Praktisch der ganze Wagen schläft noch, auch Arne. Zum Glück werde ich fündig, der nächste längere Stopp ist 7 Stunden später. Im weiten Osten Russlands ist einfach über ewige Strecken nichts!
So verläuft der zweite Tag einigermaßen ereignislos. Drei längere Stopps gab es über den Tag verteilt, und die Fahrt ist leider viel zu schnell vorbei. Zur Entspannung könnte ich auch noch einen dritten Tag Zug gut vertragen!
In einer kurzen Abwesenheit unserer Mitfahrerin habe ich sogar spontan ein kurzes Video im Abteil aufgenommen:
[wpvideo WGj5XOYC]
Die Qualität ist leider nicht berauschend, meine Handykamera liefert im Videomodus leider eher Kartoffelqualität, außerdem war es schon einigermaßen dunkel im Abteil. Früher am Tag hatte ich auch schon ein Foto machen können:
Man erkennt leicht eine von Arnes Lieblingsbeschäftigungen!
Am 29. beginnt unsere Mitfahrerin (wie viele Einheimische) 1,5 Stunden vor Ankunft damit, sich aufbruchbereit zu machen, und sitzt dann noch eine Stunde rum… Ich bin da etwas geschickter, und stehe genau eine Stunde und 5 Minuten vor Ankunft auf. Beide Bäder sind frei, auf dem Gang kein Mensch in Sicht. Ich kann Zähne putzen usw., fünf Minuten später steht eine Schlange vor den Toiletten, während ich gemütlich meinen Morgentee trinke. Eine halbe Stunde später wecke ich Arne (den alten Langschläfer), ziehe auch mein Bett ab, stopfe alles in den Rucksack, und komme im Gegensatz zum verschlafenen Arne frisch wie der Frühling5 in Habarovsk an!
Fußnoten:
- Wie bereits erwähnt, ich gebe den hart erarbeiteten Staub der sibirischen Steppe so leicht nicht auf! Was die Kirche nicht zu ändern vermag, wird auch der Eisenbahn nicht gelingen!
- Chita ist die letzte ernsthafte Abzweigung von der Transsibirischen Eisenbahn, nach China. Hier biegt auch der Vostok in die Mandschurei ab.
- Die meisten komischen Vorkommnisse der letzten Wochen haben sich als sehr russisch erwiesen – der empirische Beweis legt hier also nahe, dass merkwürdige Ereignisse nicht spanisch, sondern russisch erscheinen.
- Am zweiten Abend ist er in einem Mini Ort ausgestiegen. Dies stellt wohl realistisch auch in Frage, ob er bei der Bahn arbeitet.
- Okay, wie der Frühling in Castrop-Rauxel vielleicht!